Da ist das deutsch-kretische Ehepaar, Betreiber des Restaurant Gavdos. Inzwischen haben sie drei Söhne, und obwohl sie die Hauptarbeit hatte, sehen alle ihm ähnlich, was strenggenommen unfair ist.
Sie lebt von Montag bis Freitag in Mires, kümmert sich um die Kinder und kommt nach Schulschluß am Freitag nachmittag nach Agia Galini, um im Restaurant zu helfen. Die Jungen toben derweil auf der Straße herum, die eigentlich keine ist. Es heißt, daß er von Montag bis Freitag mit Touristinnen schläft, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Ihr wünschte ich, daß die Gerüchte ihm unrecht tun. Allerdings wirken die beiden auf mich eher professionell, nicht wie ein Paar, ich sehe keine Berührungen, nichts Vertrautes. Aber das kann natürlich auch mit den kretischen Sitten zu tun haben; dort küßt man sich nicht in der Öffentlichkeit. Sie sieht großartig aus, nicht so, als hätten die Kinder ihrem Körper zugesetzt. Vielleicht gibt es nächstes Jahr schon einen neuen Sohn...
Er spricht kaum Deutsch, obwohl die beiden schon mindestens 12 Jahre verheiratet sein müssen, sie dagegen perfekt Griechisch. Er fährt sie oft an, wenn er glaubt, daß sie einen Fehler gemacht hat, doch auch sie wirkt relativ gereizt.
Ich wüßte gern, wie diese Beziehung zustande gekommen ist; noch mehr interessiert mich allerdings, was sie aufrecht erhält. Schaut man ihr ins Gesicht, erkennt man Resignation, eine tiefe Traurigkeit. Ich könnte mir vorstellen, daß es für einen anderen Weg zu spät scheint, da sind die Kinder, die auf Kreta eine freie, warme und beschützte Kindheit erleben, wie Deutschland sie ihnen kaum bieten könnte. Auch die Qualität des deutschen Schulsystems steht nach den letzten Pisa-Studien nicht mehr zur Diskussion. Vielleicht denkt sie auch überhaupt nicht darüber nach, ist pragmatisch, lebt, arbeitet, erzieht, vielleicht ist die Beziehung der beiden ja viel besser als es von außen den Anschein haben mag. Andererseits wirkt er selten wirklich interessiert an anderen Menschen, er hört nicht zu, und jeden Tag begrüßt er die Ankommenden mit den gleichen Floskeln. Er scheint nur dann zu leben, wenn er mit seinem Boot auf dem Meer ist, tauchen, jagen, harpunieren. Dann wirbelt er hektisch herum, freut sich wie ein kleines Kind über jeden Fang, strahlt. Doch auch hier hat er (außer unter Wasser) das Handy nahezu ununterbrochen am Ohr. Wenn es wasserdichte Mobiltelefone gäbe, hätte er eines, da bin ich sicher!
Mike, der Kellner des Gavdos, altersmäßig irgendwo zwischen Anfang und Ende vierzig einzuordnen, wirkt auf den ersten und auch auf den zweiten Blick wie ein Grieche, ist aber Deutscher auf Sinnsuche. Auch er ist professionell, breites Lächeln, weiße Zähne, charmant. Wenn er erzählt, daß er den größten Teil des Jahres auf Kreta lebt, möchte man ihn um seine Freiheit und Unabhängigkeit beneiden. Eine Unterhaltung mit Mike belehrt eines Besseren. Sein Rücken ist kaputt; er mußte schon diverse Operationen über sich ergehen lassen, beide Knie ebenfalls (wahrscheinlich die Menisken), und er leidet unter Migräne, Tinnitus und Schlafstörungen. Wenig von dem, was er tut, scheint er zu genießen, er hat Angst vor einer neuen Regierung, die dem KLEINEN MANN noch mehr an die Geldbörse gehen wird (und Mike ist der KLEINE MANN!), Angst vor dem Leben.
Sobald sein Job im Gavdos beendet ist, fallen Charme, Lächeln und Leichtigkeit in sich zusammen. Was bleibt, ist ein trauriger Deutscher, der sogar die Suche nach dem Glück aufgegeben zu haben scheint.
Es ist leicht, sich anhand von Gerüchten, Beobachtungen und verzerrt durch den eigenen Wahrnehmungsfilter Geschichten über die Leben anderer Menschen auszudenken. An die Fee hätte ich den Wunsch, ein paar Stunden oder Tage in ihren Schuhen laufen zu dürfen.